Das Schloss und ich

 

Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, Elisabeth Gerloff, geb. Schönemann, geboren 1886, war 71, als ich zur Welt kam. Ein Jahr danach verlor sie ihren Mann. Vielleicht darum entwickelte sich zwischen ihr und mir, dem jüngsten ihrer sechs Enkel, ein besonderes Verhältnis. Wie sehr mich, neben der introvertierteren und religiöseren Art meiner aus dem Hessischen stammenden mütterlichen Vorfahren, ihr Charakter, ihre Geschichte und ihre Weltsicht beeinflusst haben, wird mir erst allmählich deutlich.

 

Elisabeths Vater Oskar Schönemann war 1845 in Wolfenbüttel geboren. Er lernte im Tuchhandel und kam 1865 als Commis nach Berlin – in die Firma Koeppen & Schier, Königstraße 69. 1884 wurde er Teilhaber in der nun Holzapfel & Schönemann genannten Firma, 1897 Alleininhaber.

 

Dort, im Eckhaus Königstraße / Burgstraße, „Tuchecke“ genannt, nur durch die Spree und die Kurfürstenbrücke vom Stadtschloss getrennt (vis à vis vom Kaiser, wie es in der Familie hieß), wuchs meine Großmutter auf. Die braunschweigisch-welfische Herkunft des Vaters verblasste hinter einer preußisch-deutschen großbürgerlichen Weltsicht. Man war protestantisch (Elisabeth wurde in der Marienkirche getauft und am 22. März 1918 dort mit Karl Gerloff getraut, Hochzeitsfeier im Haus Königstraße 69 – mit „Beiguß“ statt „Sauce“…), verehrte Schiller und Goethe, aber auch Italien, blieb über die Revolution hinaus kaisertreu, dabei ohne Sympathie für den Nazi-„Pöbel“.

 

Mit Hochzeit und Familiengründung endete, zeitgleich mit der Hohenzollernherrschaft, die Schlossnachbarschaft meiner Großmutter. Ihr Elternhaus, wie der größte Teil von Berlin-Mitte, wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Das Schloss ersetzte der „Palast der Republik“, das östlich der Spree angrenzende Wohnviertel wurde planiert und zum parkartigen Marx-Engels-Platz umgestaltet.

 

Von Berlin-Friedenau, dann von Braunschweig aus und in bescheidensten Verhältnissen, verfolgte sie die weitere Entwicklung Deutschlands, ohne ihren Optimismus, ihre Heiterkeit und ihr Urvertrauen zu verlieren. Sie starb mit fast 90 Jahren am 15. Dezember 1975.

 

Schwer vorzustellen, wie sie die Wende von 1989/90 erlebt hätte. Sicher ohne Pathos und Sentimentalität – beides lag ihr völlig fern –, aber doch tief bewegt. Vom Wiederaufbau „ihres“ Schlosses hat sie nicht zu träumen gewagt und nie gesprochen. Aber dass Berlin ohne das Schloss nicht mehr Berlin war, bedurfte keines Wortes. Was das Schloss symbolisiert, hat Berlin zur deutschen Hauptstadt und zu einer europäischen Metropole gemacht. Es muss wieder sinnenfällig werden.

 

Rechtes unteres Bild: Blick vom Fernsehturm auf die Grünanlagen des ehem. Marx-Engels-Platzes; dessen linke obere Ecke ist die Stelle des Hauses Königsstraße 69 (heute Rathausstraße), darüber der „Palast der Republik“ im Abriss (Mai 2008).

Peter Gerloff

 

www.stadtschloss-berlin.de