Theologische Reflexion der Liedform

 

Das Strophenlied mit Endreim ist eine „geschlossene“ Form. Der Gleichbau der Strophen und der Gleichklang des Reims sind Abbild einer gemeinsam handelnden (singenden) Versammlung. Sie widersprechen dem Prinzip von Spontanität und Individualität, das in der Werteliste der Gegenwartskultur weit oben steht.

 

Gereimte Texte sind allerdings in der Popularmusik und als Schlachtrufe bei Demonstrationszügen und Sportveranstaltungen nach wie vor beliebt und wirkungsvoll. Umso verdächtiger sind sie vielen Intellektuellen: als Ausdruck von simplifizierenden und potentiell gewalttätigen Massenemotionen.

 

Tiefer angeschaut, ist die Grundentscheidung die, ob ritualisierte Gemeinschaftsvollzüge überhaupt menschlich und christlich legitim sein können, oder ob sie grundsätzlich und immer falsches Bewusstsein erzeugen. Manche alttestamentliche Propheten (Amos) und viele jesuanische Aussprüche deuten in diese zweite Richtung.

 

Doch wird der Gegenstand der prophetischen Kritik (der Tempelkult) durch die Kritik zugleich gewürdigt – in seinem Anspruch. Der Anspruch ist, dass die äußere Form gemeinschaftlicher Glaubensfeiern mit dem Herzen und Handeln der Einzelnen und mit der Sozialgestalt der Alltagswelt (stärker) übereinstimmen müssen, eben weil der Gott, der Liebe und Gerechtigkeit fordert, kultisch anwesend ist. Dass eine völlige Übereinstimmung nicht erreichbar ist, bleibt dabei unreflektiert und wird erst nachösterlich, vor allem von Paulus, thematisiert.

 

Das Strophenlied im Kontext christlicher Liturgie ist, wie diese insgesamt, gemeinsamer Ausdruck der Erlösungsbedürftigkeit und des Glaubens an die geschehene Erlösung, die die Differenz zwischen Anspruch und Leben überbrückbar macht und immer wieder überbrückt. Das ist die Aussage der Form schon vor den Inhalten, es ist aber auch der Maßstab der Inhalte. 

 

Christuslieder sind so gesehen aktualisierte Versöhnung mit Gott und Selbstdefinition der (singenden) Gemeinschaft aus dieser Versöhnung. Sie fallen damit theologisch geradezu unter den Begriff der Sakramentalien.

 

Heiligenlieder deklinieren diesen Brückenschlag am Beispiel exemplarischer Jüngerinnen und Jünger durch. Dabei muss die „Sekundärmittlerschaft“ der Heiligen und Glaubenden durch expliziten Christusbezug zum Ausdruck kommen. Aktualisiert wird, was Christus an und durch die Heiligen getan hat und an und durch die Singenden tun will. Dieses theologische Kriterium steht noch über dem historischen.

 

Das historische Kriterium sagt: Heiligenlieder dürfen nicht lügen. Ihr Geheimnis ist aber immer das der Stellvertretung. Sie dürfen und müssen christologisch stilisieren. Das bringt schon die Strophen- und Reimform offen zum Ausdruck. Ein Menschenleben reimt sich niemals auf sich selbst. Es kann sich aber, sagt der Glaube, schwächer oder klarer auf Christus reimen.

Peter Gerloff