Liturgie in der Krise

 

Stimmung und Atmosphäre, Feierlichkeit oder Lockerheit: das sind die Kategorien, in denen der westliche Gegenwartsmensch Liturgie wahrnimmt – Kategorien der Subjektivität, der Empfindung, des Gefühls. Auch wenn er eine liturgische Erfahrung als „echt“ bezeichnet, ist damit nicht objektive Wahrheit (Kongruenz mit dem Sein), sondern subjektive Wahrhaftigkeit (Kongruenz mit dem Anspruch) gemeint.

Die liturgischen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils sind dem Bedürfnis nach „Erleben“ weit entgegen gekommen, und Zelebranten und Liturgiekreise bemühen sich mit unterschiedlichsten Mitteln um „eindrucksvolle Gottesdienste“. Das ist unumgänglich. Aber es hat sich gezeigt, dass Liturgie auf der Basis der Subjektivität nicht funktionieren kann. Eine Weile macht sie (vielleicht) Eindruck und Spaß, danach nicht mehr.

Ist die Rückkehr zum vorkonziliaren Ritus ein Heilmittel? Auch sie kann im Horizont der heutigen Situation nur von subjektiver Erfahrung ausgehen und auf sie hinzielen: das Heilige, Objektive, dem Menschen Entzogene soll (wieder) erfahrbar werden. Aber indem auf Erfahrbarkeit reflektiert wird, ist der Blick gebrochen und zurückgelenkt auf das erlebende Ich.

Was war „früher“ anders? In den ersten Jahrhunderten lag die Wahrheitskraft des Christusglaubens in seiner unerhörten Neuheit,  im Geist und Mut seiner Zeugen und in der konkreten Communio. Diese qualitative Differenz zu den überlebten Göttern gab der kirchlichen Liturgie ihre transzendente Dynamik. Vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war der christliche Kultus Teil der scheinbar gottgegebenen Gesellschaftsordnung, die als objektiv und statisch wahrgenommen wurde. Aber seit der bürgerlichen Revolution und dem Durchbruch des Kapitalismus in allen Bereichen wird das Quantifizierbare – Geld und Lust – immer unverhüllter zum Maß und Motor aller Dinge.

Eine Rückkehr in die kirchliche Frühzeit oder zur europäischen Ständegesellschaft ist weder möglich noch wünschbar. Aber auch der totale Markt ist offenbar auf Dauer nicht möglich. Er zerstört die äußeren Lebensgrundlagen (Ökologie) und den inneren Lebenswillen (Demografie).

Vielleicht ist unsere Situation apokalyptisch. Dann wäre sie, offensichtlicher als früher, die Situation, in die die Liturgie der Kirche uns seit zwei Jahrtausenden stellt.

Peter Gerloff