Kreuzweg
(Liedmeditation
zu J. S. Bachs Variationenzyklus „Sei
gegrüßet, Jesu gütig“)
(Anfang)
Wir
sind hier, um anzubeten
unsern
Herrn in seinen Nöten.
Wir
sind hier, um zu erkennen,
dass
uns Sünden von ihm trennen;
dass
wir Gutes unterließen
und
den Nächsten von uns stießen.
(1)
Seht:
der Mensch! Der Stellvertreter
aller
Sünder und Verräter,
der
Vertreter seines Vaters
im
Gewirr des Welttheaters
steht
vor Cäsars Stellvertreter;
und
der Richter wird zum Täter.
(2)
„Heil
dir, König, Zaubermeister,
Überwinder
böser Geister,
Bringer
lichter Segenszeiten,
Hoffnung
aller Todgeweihten,
sieh:
gegeißelt, wundgeschlagen
musst
du selbst den Richtpfahl tragen!“
(3)
Kaum
geschritten, schon gefallen,
hört
er Spottlärm um sich schallen.
Aufrecht
gehen, Menschenwürde
bricht
zusammen von der Bürde.
Müdigkeit
will ihn verführen:
liegen,
schlafen, nichts mehr spüren!
(4)
Doch
zwei Augen sieht er schauen
voller
Mitleid und Vertrauen.
Die
ihm glaubte in der Größe,
ist
ihm nah zur Zeit der Blöße.
So
erfüllt die Mitgeplagte,
was
sie einst dem Engel sagte.
(5)
Simon
fühlt, indem er handelt,
wie
sich Angst in Freundschaft wandelt;
wie,
was Schergen ihm befahlen,
anfängt,
in sein Herz zu strahlen.
Wider
Willen aufgezwungen,
ist
sein Bruderdienst gelungen.
(6)
Mut
der Liebe kann nichts hindern,
Schweiß
zu trocknen, Schmerz zu lindern.
Züge,
die ins Tuch sich brennen,
geben
Antwort zu erkennen.
Wunder
über Wunsch und Denken:
Dem,
der schenkt, will Gott sich schenken.
(7)
Ohne
Ende scheint die Strecke
bis
zur nächsten Straßenecke.
Muskeln
krampfen, Schwindel greift ihn,
Pesthauch
der Verzweiflung streift ihn.
Schmerz
gleich Keulen trifft ihn dröhnend.
Auf
das Pflaster sinkt er stöhnend.
(8)
Aufwärts
strebend von den Steinen,
hört
er Frauen um sich weinen;
er
erhebt sich majestätisch,
blickt
sie an und ruft prophetisch:
„Still!
Nicht mich müsst ihr bedauern –
um
die Menschheit müsst ihr trauern!“
(9)
Dann
der dritte Sturz, noch härter,
und
der Spott der Galgenwärter:
„Alle
Welt rühmt deine Werke:
komm,
Messias, zeige Stärke!“
Geistgetränkt
aus Gottes Quelle
kommt
er nochmals von der Stelle.
(10)
Letzter
Schutz, der ihn umhüllte,
letzte
Würde, die er fühlte:
Kleiderfetzen
sind zerschlissen
und
der Mantel weggerissen,
Hauptgewinn
beim Würfelspielen;
nackt
trifft ihn der Blick der Vielen.
(11)
Hammerschläge,
sinnbetäubend,
glieddurchbohrend,
blutaustreibend,
Nägel,
kantig, grob geschmiedet,
Schweiß,
der aus den Poren siedet:
keuchend
wird er hochgezogen,
von
der eignen Last verbogen.
(12)
Atem
stockt, die Kräfte schwinden;
und
sein Gott lässt sich nicht finden.
Laut
in Finsternis und Leere
ruft
er sterbend: „Vater, höre!“
Einer
weiß mit Blitzesklarheit:
„Das
ist Gottes Sohn, in Wahrheit.“
(13)
Tot
vom Kreuz herabgenommen
und
zur Mutter heimgekommen,
hat
er seinen Kreis vollendet
und
das Los der Welt gewendet.
Die
mit dieser Mutter weinen,
sehen
schon den Trost aufscheinen.
(14)
In
den Grabesschoß gebettet,
hat
er Licht und Glück gerettet,
hat
die Heilsbotschaft besiegelt
und
das Todestor entriegelt.
„Sucht“,
befehlen Gottes Boten,
„ihn,
der lebt, nicht bei den Toten!“
(Schluss)
Danke,
Jesus, Stellvertreter
aller
Spötter, aller Beter,
aller
Starken, aller Schwachen,
aller
Schläfer, aller Wachen.
Weil
du machtlos starbst auf Erden,
kann
der Himmel mächtig werden.